Prof. Dr. Jürgen Stark, Ex-Chefvolkswirt der EZB, redet offen über den verbotenen Aufkauf von Staatsanleihen, der intern als „Nuklearwaffe“ bezeichnet wird. Und: über die Zukunft des Euro, die Gefahr einer Inflation – und warum wir geradewegs in die nächste Finanzkrise stürzen
Stark: Im EZB-Rat hieß es,
dass infolge der europäischen Finanzkrise nun „Nuklearwaffen“ eingesetzt werden
müssten – so wird der Einsatz eines ultimativen Instruments unter Zentralbanken
bezeichnet, wie zum Beispiel der Kauf von Staatspapieren. Sie wollten also die
Märkte mit Liquidität fluten. Ich hätte das eingesehen, wenn es eine akute
Defla-
tionsgefahr gegeben hätte – aber das war nicht der Fall.
Stark: Zunächst schien das
Szenario gar nicht so dramatisch. Denn sobald die EZB in Krisenländern
intervenierte, hat sie an anderer Stelle Liquidität aus dem jeweiligen Markt
genommen. Es gab Zuflüsse und Abflüsse und damit keine Gefahr einer Inflation.
Money: Aber eine
Nuklearwaffe impliziert, neben der Verteidigung, doch vor allem Zerstörung.
Stark: Fest steht, dass
sich Notenbanker und Politiker ab 2010 sowieso ein Vokabular angeeignet haben,
das eher an eine krieger-
ische Auseinandersetzung erinnert als an eine
Friedenszeit. Es hieß, man brauche Instrumente wie „Nuklearwaffen“, um
abschreckend zu wirken gegenüber den Märkten. Man wollte zeigen, dass man mehr
tun könnte. Denn in den USA und auch in Großbritannien nahm der Auf-
kauf von
Staatspapieren ja längst größere Dimensionen an als im Euro-Gebiet.
Money: Welche
beängstigenden Begriffe sind intern noch gefallen?
Stark: Es wurde ganz klar
gesagt, dass wir uns „im Krieg“ befinden. Ich habe immer gefragt: Wo ist denn
der Feind? Und wo sind unsere Truppen? Es hieß immer nur: „Wir haben Waffen,
und die müssen wir einsetzen!“ Beim Einsetzen von Nuklearwaffen geht es ja
meistens darum, möglicherweise noch größere Schäden zu vermeiden.
Stark: Die EZB hat in den
Krisenländern nun mal eine politische Rolle übernommen, seitdem kommuniziert
wurde: „Wir tun alles, um die Euro-Zone zusammenzuhalten.“ Natürlich muss ein
Interesse daran bestehen, den Euro zu erhalten. Der Euro als Währung ist
letztlich aber nicht in Gefahr. Was gefährdet ist, ist die derzeitige
Zusammen-
setzung des Euro-Gebiets – die der 17 Mitgliedsstaaten.
Money: Kann der Euro
überhaupt überleben? Steht die Euro-Zone vor dem Zusammenbruch?
Stark: Nein. Aber ich
glaube, dass die derzeitige Zusammensetzung Euro-Lands gefährdet ist, da ich
erhebliche Zweifel habe, ob alle Krisenländer den Anforderungen einer gemeinsamen
Währung gerecht werden können. Wenn sie in der Lage gewesen wären, gegenüber
den hohen Anforderungen einer Währungsunion zu bestehen, wären wir heute nicht
in dieser Situation. Man hat sich nicht an die Regeln ge-
halten.
Ungleichgewichte sind entstanden, und der erwartete „Gruppen-
druck“ hat nicht
funktioniert. Mario Monti hat Recht, wenn er sagt, es gibt in Europa zu viel „ungesunde
Höflichkeit“.
Money: Wie hoch wird die
Inflation in Deutschland sein?
Stark: Es scheint mir sehr
sicher zu sein, dass wir eine extrem heterogene Entwicklung in Europa erleben
werden. Heißt: Die Peripherie wird sehr niedrige Inflationsraten oder sogar
Deflation haben in den nächsten Jahren. Allerdings werden wir im nördlichen
Teil des Währungsgebiets dafür höhere Inflationsraten sehen. Ich rechne für
Deutschland in den kommenden Jahren mit bis zu vier Prozent. An-
scheinend ist
das sogar gewollt, denn der Internationale Währungs-
fonds machte jüngst im April
diese Rechnung auf: Wenn im Durch-
schnitt die Inflationsrate im Euro-Raum
insgesamt bei etwas unter zwei Prozent liegen soll, dann muss Deutschland eine
Inflationsrate von vier Prozent akzeptieren.
Money: Hohe Inflation und
niedrige Zinsen – hat uns die finanzielle Repression voll erfasst?
Stark: In der Peripherie
kann von finanzieller Repression nicht die Rede sein. Überall dort, wo wir
negative Realzinsen haben – wie in Deutschland -, ist es jetzt aber eines. Denn
diejenigen, die Interesse an deutschen Staatspapieren haben, werden durch den
Wertverlust dafür bestraft. Deshalb müsste finanzielle Repression eigentlich
ein viel breiter diskutiertes Thema sein. Auch die Kanzlerin hatte schon vor
weiter sinkenden Zinsen gewarnt: Die niedrigen Zinsen führen dazu, dass Sparer
bestraft werden. Mehr noch: Sparer mit Staatspapieren werden kalt enteignet
durch diese Entwicklung!
Money: Vernichtet die EZB
damit das Vermögen der heutigen und künftigen Generationen?
Stark: Wenn Sie überlegen,
dass vor dem Hintergrund des demo-
grafischen Wandels selbst die Bundesregierung
Anreize gibt, stärker Vorsorge für das Alter zu betreiben, wird dieser Rat
durch die Niedrig-
zinspolitik konterkariert. Die maßgebliche Gefahr besteht
darin, dass wir in eine Art Niedrigzinskultur hineingleiten, die noch niemand
zuvor erlebt hat und von der wir nicht wissen, welche längerfristigen Folgen
sie hat. Jedenfalls führt dies dazu, dass junge Leute, die eine
Lebens-
versicherung abschließen, bedenken müssen, dass auch Lebensver-
sicherer in
große Probleme gekommen sind, auskömmliche Renditen zu erzielen.
Quelle:
Auszüge aus einem Interview der Zeitschrift FOCUS MONEY 27/2013 mit Professor
Dr. Jürgen Stark